Der tibetanische Buddhismus erklärt, dass das Greifen eine Wurzel des Übels ist. Doch um zu verstehen, was damit gemeint ist, ist es wichtig, zu hinterfragen, was es mit diesem "Greifen" auf sich hat.
Verdichtung
Der Anfang
Wir kommen hier in unserer Welt als Säugling an. Der kindliche Emotionalkörper ist komplett auf das Greifen ausgerichtet. Alles wollen wir berühren, anfassen, einverleiben. Das ist die Natur des frühen Emotionalkörpers. Er be-greift durch Greifen und der Denkkörper sortiert diese Erfahrung ein. Wohlige und unschöne Erlebnisse registriert der Emotionalkörper. Der Denkkörper liefert die jeweilige subjektive Bewertung und somit den Erfahrungswert. Es ist sogar so, dass Denkkörper und Emotionalkörper die erschaffenden Faktoren unserer erlebten Wirklichkeit sind.Der Emotionalkörper
Entwickelt sich unser Emotionalkörper weiter, werden wir aufhören, jede Blume herauszureissen, nur weil sie so schön bunt ist und wir lernen, ihre wahre Schönheit zu betrachten, ihre wahre Natur; indem wir sie stehen lassen, ohne sie haben zu wollen; ohne danach zu Greifen. Die wahre Natur eines Aspekts besteht immer in der Unberührtheit und in der Nicht-Bewertung. Die Dinge sind wie sie sind, doch wie wir sie ansehen, wie sie für uns ausschauen, wenn wir sie bewerten und mit Emotion belegen, dann sehen wir nicht unbedingt die Dinge wie sie sind, jedoch unsere Interpretation davon und schon können wir die wahre Natur nicht mehr erkennen. Das Greifen fängt schon im Intellektuellen an, durch unser Werturteil und was wir von den Dingen halten. Ein halb mit Wasser gefülltes Glas ist ein halb mit Wasser gefülltes Glas. Das ist seine Natur. Ob wir das Glas als halb voll oder halb leer betrachten, das ist unsere Interpretation davon.Das Greifen - eine Wurzel des Übels?
Am Beispiel mit der Blume sehen wir: das Herausreissen ist Zerstörung, Leid. Es verwandelt die Blume, sie wird durch diesen Akt schnell vergehen. Sicher, sie würde auch in ihrem eigenen Prozess vergehen, aber das ist etwas Anderes, denn es ist in ihrer Natur, zu wachsen und zu vergehen, in ihrer eigenen Zeit. Sie kommt, gibt sich dem Prozess hin und greift nicht nach dem Verbleiben in ihrer momentanen Schönheit. Viele Aspekte verwandeln sich in ihre wahre Natur, wenn man sie Greifen befreit.Die Weisheit der Unterscheidung
Die Begierde, so heisst es im tibetanischen Buddhismus; wenn man sie vom Greifen befreit, wird zur Weisheit der Unterscheidung. Das heisst, umso mehr wir im Greifen verstrickt sind, desto mehr sind wir von der Unterscheidungsfähigkeit getrennt. Wir sind dann in der Lage, allen möglichen Unsinn zu machen und der Denkkörper, im tibetanischen Buddhismus "Sem" genannt, liefert uns stoisch für jedes Erdenkliche, was wir gerade tun, die jeweilige Rechtfertigung und Interpretation, warum wir es machen, auch wenn ein anderer Teil von uns spürt, dass dies unter Umständen grösster Unfug sein könnte.
Begierde und Gier
Begierde, Gier und Festhalten sind Formen des Greifens. Begierde ist das Haben-wollen, Gier das Mehr-haben-wollen und Festhalten das Nicht-Loslassen. Zum Festhalten sei gesagt, dass es einerseits in uns um den aus der Wertschätzung heraus geborenen Erhaltungswillen gibt; andererseits aber auch das Wissen, dass wir alles irgendwann wieder loslassen müssen, denn die Welt, in der wir leben ist eine Welt der Vergänglichkeit. Spätestens wenn wir sterben, werden wir nichts aus dieser Welt auf unseren weiteren Weg mitnehmen können. Der Wille, etwas zu bewahren, zu warten und zu erhalten hat, wie gesagt, mit Wertschätzung in Bezug auf das zu Erhaltende zu tun. Das ist völlig in Ordnung, denn Wertschätzung ist etwas, das wir lernen können, wenn wir etwas bekommen und es in unserer Obhut ist, bis der Zeitpunkt gekommen ist, wo wir jenes wieder gehenlassen müssen; loslassen. Doch alles, was wir krampfhaft festhalten wollen, wird in unseren Fingern zerinnen wie feiner Sand.Wertschätzung
Das ist ein wichtiger Punkt. Es beginnt, wie schon weiter oben beschrieben, beim Kind. Ein Kind kann Wertschätzung für jenes erlernen, was es bekommt; vorausgesetzt, man bringt es ihm bei. Wo Wertschätzung fehlt, nimmt die Geringschätzung automatisch den Raum ein. Gier und Geringschätzung ziehen an einem Strang. Was nicht mehr be-giert wird, kaputt geht, unbrauchbar wird; wird weggeworfen; egal, wieviel es vorher gekostet haben mag. Gegenstände und Gebrauchsartikel werden schon von vorn herein geringwertig hergestellt, damit sie schneller kaputt gehen, reparatur-unrentabel sind und somit mehr gekauft davon werden muss. Nehmen-Benutzen-Wegwerfen ... kommt das nicht bekannt vor? Gier kennt keine Grenzen. Doch letztendlich bringen uns die Erfahrungen, wenn wir uns darüber bewusst werden, auf den Weg, der uns vom kindlichen Greifen in das reife Geben und Nehmen führt.Wenn wir uns aus jenen Gesichtspunkten die heutige "zivilisierte" Gesellschaft betrachten; ihre Früchte der Zerstörung, der Unachtsamkeit, der Geringsschätzung; den gnadenlosen Raubbau an der Erde und auch der Umgang der Menschen untereinander; so kann nun jeder seine eigenen Beobachtungen machen und seine Schlüsse ziehen, in welchen Stadium sich diese Zivilisation befindet; ihre Natur erkennt und entscheiden, was er nun als persönliche Erfahrung zum Ausdruck bringen möchte.
Text von Christian Malzahn
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